Ein blinder Distanzritt
Bereits im Juli berichtete Rabea Müller von Ihrem "Mut zur Strecke" Erlebnis. Nun folgt Teil 2 der Geschichte, ein MDR - ein Distanzritt zwischen 60-80 km welchen Sie mit Ihrer blinden Appaloosa-Stute "Alizee" meisterte!
Eine blinde Stute mit dem Herz für Distanzen
Den gepunkteten Pferden wird oft nachgesagt, sie wären unglaublich belastbar und hätten in ihrem Blut noch immer die Stärke, mit der ihre Ahnen damals die Nez Percé über hunderte Meilen durch unwegsames Gelände trugen. Diesen Willen und auch die vielseitigen Talente dieser Rasse kann man noch heute in vielen Pferden wiederfinden und auch ein Handicap kann ein solches Pferd nicht aufhalten, wenn es ein Ziel vor Augen hat.
Mit meiner Stute Alizee habe ich das große Glück, ein so edles Pferd an meiner Seite zu haben. Egal welche Herausforderung wir auf unserem Weg fanden, sie hat mich bisher noch nie im Stich gelassen. Vor sechs Jahren kaufte ich sie als 17-jährige Studentin und traf damit die beste Entscheidung meines Lebens. Anfangs mussten wir jedoch erst unsere größte Herausforderung meistern - ihre Blindheit.
Sie war an der periodischen Augenentzündung erkrankt und bildete sekundär ein Glaukom und eine beidseitige Linsenluxation aus, die ihr nicht nur das Augenlicht nahm, sondern auch durch massive Schmerzen zu einer akuten Beeinträchtigung der Orientierung führte.
Anfangs war an Reiten nicht zu denken, da sie nur zwei Dinge wirklich machte: kopflos galoppieren und seitwärts oder rückwärts rennen. Auf den Platz traute ich mich bald nicht mehr, weil sie die Hilfen schlecht annahm und wir nicht nur einmal durch Gleichgewichtsprobleme umkippten oder im Zaun landeten.
Wer hätte sich mit so einem Pferd noch ins Gelände getraut?
Erstaunlicherweise war das aber genau ihre Passion: je komplizierter die Wege, desto ruhiger wurde sie. So leicht war es aber trotzdem nicht. Sie neigte nach wie vor dazu, bremsende Hilfen in bestimmten Situationen zu ignorieren und nur auf den Nothalt zu reagieren. Der Nothalt ist bei uns ein Stimmkommando, bei dem sie in jeder Entfernung und in jeder Situation sofort stehen bleibt und wartet. Irgendwann keimte in mir der Gedanke, dass sie vielleicht mehr laufen will und es nur ein Ausdruck von Unzufriedenheit ist.
Sie bekam die Chance und zeigte endlich, was in ihr steckt. Irgendwann stand dann natürlich der Gedanke im Raum, warum man ihre Passion nicht bei einem Distanzritt ausprobiert und so nannte ich 2018 unseren ersten Einführungsritt über 35km. Der erste Start war schon bei der Voruntersuchung eine Probe, da die Tierärztin zunächst wenig überzeugt war, ein Pferd ohne Augen starten zu lassen. Ich übernahm die volle Verantwortung und ritt aufgewühlt los, nur um von einem glücklich trabenden Pferd sicher über die Ziellinie getragen zu werden.
Angesteckt von dieser Freude nannte ich 2019 drei weitere Ritte, diesmal alle zwischen 40 und 50 km und war immer wieder begeistert, wie ausgeglichen sie diese Distanzen meisterte. Ebenso wurde sie immer ruhiger in den tierärztlichen Untersuchungen, übernachtete sogar entspannt schlafend auf einer unbekannten Paddockwiese und zeigte immer deutlicher ihre Vorlieben. Ich hatte anfangs Bedenken, weil wir relativ spät mit diesem Sport angefangen haben und sie bei ihrem ersten Ritt bereits 16 Jahre alt war.
Am Ende war das Alter aber nie ein limitierender Faktor, aber natürlich eine Gegebenheit, die ich während des Trainings im Hinterkopf haben musste. Durch die Blindheit neigt sie zu einer leichten Schiefe, die sich auf längeren Strecken bemerkbar macht. Damit sie in den Kontrollen nicht negativ durch eine Lahmheit oder harte Muskulatur auffällt, haben wir im Training einen großen Fokus auf die Gymnastizierung gelegt und auch während der Ritte immer wieder Seitengänge eingebaut. Auch braucht sie immer eine kleine Anlaufzeit – wie ein Dieselmotor. Ich achte während der ersten Kilometer auf ein langsames Tempo, bevor ich sie schneller gehen lasse.
Durch die guten Erfahrungen keimte der Wunsch in mir, einmal auf einem MDR zu starten. Ein MDR (Mittlerer Distanzritt) geht über eine Länge von 60-80km und die Qualifikation hatten wir uns bereits erritten. Zum Glück haben wir einen Ritt im September 2020 gefunden, bei dem noch Startplätze frei waren. Anfangs hatte ich riesige Angst davor, weil es direkt über 80km ging und sich unsere gewohnte Rittlänge damit verdoppelte.
Aber Alizee hat wieder gezeigt, was der Willen eines Pferdes am Ende ausmacht. In der ersten Runde lief sie 30km in unserem Höchsttempo, bevor ich sie auf den folgenden Runden zurückhielt, um kein Risiko einzugehen. Obwohl meine Nerven nach den ersten 70km, mehreren Stunden Reitzeit und einem Verreiten um mehrere Kilometer blank lagen und ich am liebsten abbrechen wollte, hatte ich noch immer ein motiviertes und fittes Pferd an meiner Seite. Am Ende war sie es, die mich überzeugte auch die letzte Runde zu gehen und den Ritt zu beenden. An diesem Tag hat sie mich 60 km getragen und ist 20 km neben mir hergelaufen - durch komplett fremdes Gelände mit wurzeligen Wegen, einer spannenden Blechbrücke, herangaloppierenden Rinderherden und den normalen Trubel eines Distanzrittes. Sie erhielt bei diesem Ritt auch unseren ersten Ehrenpreis und ich muss sagen: Ich hätte nicht stolzer auf dieses Pferd sein können. Durch dieses Pferd habe ich die Liebe zu Distanzritten entdeckt und kann mit vollem Vertrauen sagen: Auch die Blindheit kann dieses Pferd nicht aufhalten.
Text: Rabea Müller
Bildbeschreibungen/Fotografen:
Foto 1 : Fotografin Bianca Schwella
Foto 2-4: Fotografin Nicole Gust (Ritt „Mut zur Strecke“ November 2019 in Berlin), 1 – Ankunft in einem Vetcheck auf der Strecke, 2 – eine besondere Herausforderung war die Gewöhnung an das regelmäßige Trinken auf der Strecke aus unterschiedlichen Bottichen, 3 – ein toller Moment auf der Strecke
Foto 5: Fotografin Miriam Lewin von endurance-photo.com (Ritt 80km „Trechwitzer Wald- und Wiesenritt“ 2020) Es ist offensichtlich, das Alizee nach 80km deutlich fitter war, als ich.